Überlebensfaktor Kuscheln – Ein Besuch in Dresdens babyfreundlichem Krankenhaus

Von Claudia Hempel

Babys, die deutlich zu früh  geboren werden oder bei der Geburt weniger als 2500 Gramm wiegen, kommen nach bisheriger Praxis sofort in den Inkubator. Dort sind optimale Temperatur und Luftfeuchtigkeit gegeben. Doch auch wichtig für das Überleben und die Gesundheit der Kinder ist der sofortige Hautkontakt, das sogenannte Känguruing oder Bonding. Dabei liegt das nackte Kind direkt auf der Brust der Mutter. Dieser Hautkontakt ist für alle Babys wichtig.

Unsere Autorin Claudia Hempel hat sich mit Dr. Anna Treptow im Diakonissenkrankenhaus Dresden getroffen, das seit 2013 als „Babyfreundliches Krankenhaus“ zertifiziert ist. Das Prädikat wird gemeinsam von der WHO und Unicef vergeben.

Dr. Anna Treptow (c) Franziska Pilz
Dr. Anna Treptow (© Franziska Pilz)

Sie arbeiten seit 2018 hier im babyfreundlichen Krankenhaus. Was unterscheidet dieses Krankenhaus von Häusern ohne Zertifikat?
Wer so ein Zertifikat bekommen will, muss sich strengen Kontrollen und Prüfungen unterziehen. So eine Prüfung hat es in sich – nicht nur im Krankenhaus schauen die Prüferinnen, ob die Mitarbeitenden das Bonden und Stillen fördern, sie rufen die Frauen auch zu Hause an, um zu erfragen, ob sie tatsächlich beim Bonding unterstützt wurden.

Das Ideal der Initiative Babyfreundlich wäre: Das Kind wird geboren und kommt auf die Brust der Mutter. Und bleibt dort, bis die Mutter entlassen wird. Das ist natürlich nicht immer so leicht zu realisieren, aber über die Jahre sind wir immer besser geworden, viele Dinge möglich zu machen.

Was ist das Hauptkriterium für das Zertifikat?
Die Initiative möchte die Eltern-Kind-Bindung, das Stillen und damit die Entwicklung des Neugeborenen fördern. Dazu gehört die Forderung, unmittelbar nach der Geburt eine Stunde ununterbrochenes Bonden zu ermöglichen. Das bedeutet auch für unsere Hebammen und Pflegenden, dass das Kind erst nach dieser Stunde gewogen und untersucht wird.

Das Kind hat alles, was es braucht. Es kann auf der Mutterbrust liegen, es wird im besten Fall von allein die Brust finden und von allein anfangen zu saugen. In der Fachliteratur wird das als Self-Attachment bezeichnet. Das ist in der derzeitigen Diskussion gerade ein sehr wichtiges Thema.

Was passiert beim Bonding?

Man weiß, dass durch dieses Bonding, also durch den Haut-zu-Haut-Kontakt, das Riechen und das Fühlen, eine Menge bindungsfördernde Hormone ausgeschüttet werden. Dazu gibt es ganz viele Studien, die das belegen. Es gibt aber auch noch viele offene Fragen. Zum Beispiel: Wie funktioniert das eigentlich tatsächlich? Wird bei dem Kind der Cortisolspiegel gesenkt, also das Stresshormon reduziert? Man weiß, dass es funktioniert, aber noch nicht so richtig, wie es funktioniert.

Auch für die Mutter hat es positive Effekte. Sie kommt besser in die Milchbildung, hat eine schnellere Rückbildung der Gebärmutter, weniger Blutungen, und bei erfolgreichem Bonding treten auch weniger postnatale Depressionen auf.

Neugeborenes beim Stillen (c) Ben Gierig
© Ben Gierig, Dresden


Und bei den Kindern?
Die sind temperaturstabiler. Und wenn ein Kind temperaturstabiler ist, kann es besser an Gewicht zulegen, weil es nicht so viel Energie verwenden muss, um die Temperatur zu halten. Aber auch die Blutzuckerwerte schwanken weniger, es gibt weniger Gelbsuchtfälle und möglicherweise wird die Gehirnentwicklung bei gebondeten Kindern positiv beeinflusst.

Wie kommt man zu solchen Erkenntnissen?
Bei einigen Studien wurde die Interaktion zwischen Müttern und Neugeborenen über einen längeren Zeitraum mit Kameras aufgezeichnet und anschließend ausgewertet. Dabei hat man festgestellt, dass die Mütter, die ununterbrochen gebondet haben, dem Kind gegenüber zugewandter sind. Sie reden mehr mit ihm, lächeln es häufiger an, streicheln es länger und intensiver. Das ist schon bemerkenswert.

Und nach zwei Jahren hat man diese Familien wieder besucht. Es wurde geschaut, wie sie sich im Gegensatz zu anderen Familien verhalten. Und auch da konnte eine intensivere Verbindung beobachtet werden.

Wie schaffen Sie es, ein fast ununterbrochenes Bonding im Krankenhaus möglich zu machen?
Unsere neueste Errungenschaft sind sogenannte Bondingtops. Das ist im Prinzip eine Art Baumwollschlauch, den gibt es in unterschiedlichen Größen und Farben. Damit können die Mütter, wenn sie das möchten, ihr Kind die ganze Zeit nackt bei sich haben.

In anderen Kliniken ist es dagegen oft noch Alltag, dass die Kinder nach dem ersten Bonding im Kreißsaal angezogen werden, angezogen mit den Eltern auf die Wochenstation gehen und dort dann das Bonden mit Kleidung beginnt.

Besteht ein Unterschied zum unmittelbaren Hautkontakt? Oder spielt es keine Rolle, ob die Kinder angezogen sind?
Tatsächlich gilt: Je mehr Hautkontakt, desto besser die Ergebnisse beim Bonding. Das war mir ehrlich gesagt selbst nicht klar. Meine eigenen Kinder habe ich immer erst angezogen und dann haben wir gekuschelt.

Wie alt sind Ihre Kinder?
Meine Kinder sind 2008, 2010 und 2013 geboren. Da spielte Hautkontakt noch keine große Rolle. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich eines meiner Kinder nackt auf meiner Brust hatte.

Sind alle Frauen sofort vom nackten Bonden überzeugt?
Ja, fast alle. Das liegt aber auch sicherlich daran, dass die Frauen sich ja vorher unser Krankenhaus bewusst ausgesucht haben. Und da spielt unser Konzept des Bondens natürlich eine große Rolle. Wer das nicht möchte, entbindet vielleicht von vornherein in einem anderen Krankenhaus.

Es gibt aber auch bei uns Frauen, die ihre Kinder lieber anziehen. In den Regeln für das Zertifikat steht aber explizit, dass das Krankenhauspersonal die Mütter immer wieder aktiv darauf ansprechen und fragen soll: Wollen Sie nicht ein bisschen Haut-zu-Haut-Kontakt haben? Dieser gewisse Druck durch das Zertifikat hilft uns, Dinge zu ermöglichen, die sicherlich in anderen Kliniken noch nicht so im Vordergrund stehen. Und nacktes Bonden ist eines davon.

Was ist mit Frühchen? Profitieren die auch vom Bonding?
Ja, das ist erstaunlich. Auch hier ist ein Umdenken da. Früher war es bei deutlich zu früh geborenen Kindern üblich, sie sofort in den Inkubator zu legen, heute ist auch bei ihnen das Ziel, nach der Geburt so lange wie möglich Bonding zu ermöglichen. Je nach Verfassung des Kindes können wir dies sogar ermöglichen, wenn das Kind beatmet werden muss. Das ist nicht ganz einfach, aber es ist heute so viel möglich, was früher undenkbar war.

Ich danke Ihnen für das Gespräch!

Alte Methode – neue Erkenntnisse
Das Känguruing stammt ursprünglich aus Kolumbien. Weil es an Inkubatoren fehlte, legten 1979 zwei Kinderärzte Frühgeborene zwischen die Brüste der Mütter. Sie glaubten, dass dies der sicherste Platz für das zu früh geborene Kind sei. Dort hat ein Baby es vor allem warm, kann gut atmen und hat somit bessere Überlebenschancen. Wie recht sie hatten. Seitdem wird der Haut-zu-Haut-Kontakt von Frühchen und Eltern weltweit immer häufiger in die Frühchenversorgung integriert.
Üblicherweise wird damit erst begonnen, nachdem das Baby in einem Inkubator stabilisiert wurde, was durchschnittlich 3 bis 7 Tage dauern kann. Der Haut-zu-Haut-Kontakt unmittelbar nach der Geburt aber kann jedes Jahr bis zu 150.000 weitere Leben retten. Das legt der Frühgeborenenreport der WHO nahe, der auf zahlreichen Studienergebnissen beruht.

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