An erster Stelle steht der Schutz der Kinder

Von Ida Hollerbusch
Mädchen mit Katze

Als im vergangenen Jahr die Missbrauchsfälle im ostwestfälischen Lüdge und im nordrhein-westfälischen Bergisch-Gladbach bekannt wurden, erschreckte vor allem das Ausmaß der Taten. Schaut man allerdings auf die Zahlen, so scheinen die bekanntgewordenen Straftaten nur die Spitze eines Eisbergs zu sein.

Eine Expertengruppe zur Aufarbeitung sexuellen Kindermissbrauchs geht basierend auf den Daten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) davon aus, dass in Deutschland eine Million Kinder pro Jahr einen sexuellen Missbrauch erleiden. Das bedeutet, dass statistisch gesehen in jeder Schulklasse ein bis zwei betroffene Kinder sitzen. Zur polizeilichen Anzeige kommen dagegen pro Jahr nur durchschnittlich 14.000 Fälle.
Was die Täter schützt, ist, dass sie sich meist im vertrauten Umfeld des Kindes bewegen. Oft besteht sogar ein Vertrauensverhältnis zwischen Täter und Opfer. Sie gehören zur Familie, zum Freundes- und Bekanntenkreis.
„Neben dem familiären Umfeld spielen auch Institutionen eine Rolle“, ergänzt Dr. Simone Slansky, Leiterin der Praxis für Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie der Sana Kliniken Leipziger Land. „Tatorte können Schulen, Jugendhilfeeinrichtungen, Sport- und Freizeitzentren oder Kindergärten sein.“

GEPLANTE TATEN

Die meisten Missbrauchstäter bereiten ihre Tat sorgfältig vor. Ihr Vorgehen zielt zum einen darauf ab, mit dem Kind ungestört zu sein. Zum anderen müssen die Täter ihre Absicht verschleiern. Sie geben sich als Freund und Gönner aus, studieren die Wünsche und Schwierigkeiten des Kindes, versuchen, sein Vertrauen zu gewinnen und isolieren es. Eine Taktik kann zum Beispiel sein, dem Kind zu vermitteln, es sei besonders auserwählt. „Die Täter missbrauchen ihre Macht, um Kinder abhängig zu machen“, sagt Slansky. Erst nach und nach verstricken sie das Kind in sexuelle Handlungen. Oft beginnen sie mit gezielten Grenzüberschreitungen, also Handlungen, die das Kind nicht eindeutig als Missbrauch einordnen kann.

Will das Kind sich zurückziehen, weil es sich nicht wohlfühlt, beginnt der Täter, das Kind zu manipulieren. Etwa, indem er sagt, dass es ihm doch auch gefallen habe, oder, dass es nichts sagen dürfe, weil er dann ins Gefängnis müsse. All diese Strategien machen es dem Kind fast unmöglich, sich zur Wehr zu setzen.

ANZEICHEN ERKENNEN

Nur selten sagen Kinder direkt, was ihnen widerfährt. Gerade den Jüngeren fehlen dafür oft die Worte. Kinder machen allerdings durchaus Andeutungen. Zum Beispiel, wenn sie über sexuelle Praktiken berichten oder sie in Puppenund Doktorspielen nachspielen und dieses Wissen dem Entwicklungsstand des Kindes nicht entspricht. „Darüber hinaus geben Rollenspiele Aufschluss über das Beziehungsverhalten in der Familie und den Umgang mit Nähe und Distanz“, erklärt Slansky. Warnzeichen können der Psychotherapeutin zufolge aber auch Verhaltensänderungen sein; zum Beispiel unkontrollierte Wutausbrüche, Ängste, Schreckhaftigkeit oder wenn sich ein Kind von bestimmten Aktivitäten zurückziehe, die an den Missbrauch erinnern. Solche Aktivitäten können zum Beispiel das gemütliche Beisammensein, gemeinsames Filmschauen oder der Ausflug in ein Schwimmbad sein.
„Bei Jugendlichen könnte ein übertriebener Wasch- und Sauberkeitszwang auffallen, ein auffälliges Sexualverhalten, Essstörungen, Alkohol-und Drogenmissbrauch“, so Slansky weiter.

SICHERHEIT HAT VORRANG

Generell sollte jede starke Verhaltensänderung ernstgenommen werden. Wichtig ist, den Kindern zu signalisieren, dass sie sich jederzeit äußern können und dass ihnen Glauben geschenkt wird. Es ist unwahrscheinlich, dass sich Kinder sexuelle Übergriffe ausdenken oder herbeifantasieren. Wahrscheinlicher ist, dass sie nichts sagen oder den Missbrauch leugnen, weil der Täter ihr Schweigen erpresst. „Bevor jedoch ein konkreter Verdacht öffentlich geäußert wird, müssen die Fakten gesichert und das Kind vom Täter getrennt werden“, betont Dr. Slansky. Das habe damit zu tun, dass das Kind in höchste Gefahr gerät, wenn der Täter das Gefühl hat, entdeckt zu werden. Wichtig sei, zunächst die Beobachtungen gut zu dokumentieren, rät die Psychologin, und sich mit anderen Betreuern auszutauschen, zum Beispiel mit dem Erzieherteam, den Ergotherapeuten oder – wenn bereits vorhanden – den Familienhelfern beziehungsweise dem Jugendamt. Es ist ratsam, sich zunächst über die Beobachtungen auszutauschen und zu klären, ob sich das Kind bei anderen Kontaktpersonen oder zu Hause ähnlich verhält.

„Bestätigt sich der Verdacht, muss unverzüglich alles Notwendige geregelt werden, damit das Kind in Sicherheit kommt, bevor Anzeige erstattet wird“, sagt Slansky. „An erster Stelle steht immer der Schutz des Kindes.“

BEDÜRFTIGE KINDER WERDEN EHER ZU OPFERN

Besonderen Schutz benötigen Kinder,

  • die sich selbst überlassen sind, und deren Bedürfnis nach Wärme, Geborgenheit und Anerkennung unerfüllt bleibt
  • die Grenzverletzungen und Gewalt bereits in der Familie erleben
  • die aufgrund einer Behinderung Erwachsenen noch stärker unterlegen sind als gleichaltrige gesunde Kinder
  • die in sehr strenghierarchischen Familien großwerden und sich weniger trauen, das Verhalten eines Erwachsenen infrage zu stellen
  • in deren Familien Sexualität tabuisiert wird und die oft nicht wissen, wann eine Grenzverletzung beginnt
SICHERE UMGEBUNG, STARKE KINDER

Kinder müssen sich darauf verlassen können, in einer sicheren Umgebung aufzuwachsen. Institutionen wie Schulen und Kindergärten sind aufgerufen, professionelle Konzepte zum Schutz vor sexueller Gewalt in ihren Einrichtungen einzuführen, inklusive eines Plans zum Vorgehen im Fall eines Verdachts. Zur Prävention gehört aber auch, die Kinder zu sensibilisieren und in ihren Handlungsmöglichkeiten zu stärken.

Das umfasst Themen wie:

  • Körpergrenzen kennen und verteidigen lernen
  • Selbstbehauptung und Nein-Sagen
  • Bei Jugendlichen: sexuelle Selbstbestimmung
  • Selbsthilfefähigkeiten stärken
  • Hilfsadressen kennen

http://www.kinderschutzbund-sachsen.de

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