Musik + Rhythmus = Bewegung
In der Clara-Wieck-Schule Leipzig, einer Grundschule im Nordosten der Stadt, beginnt gleich die 5. Stunde und damit eine ganz besondere Musikstunde, in der auch die Bewegung nicht zu kurz kommt. […]
Etwa 15 Prozent der Kinder und Jugendlichen sind übergewichtig oder sogar stark übergewichtig, also adipös. Wer als Kind übergewichtig war, muss oft sein Leben lang gegen die Kilos kämpfen. Auch Begleiterkrankungen wie Diabetes oder Bluthochdruck werden bei jungen Menschen immer häufiger diagnostiziert. Kann eine Abnehmspritze besser helfen als Ernährungsumstellung und Bewegungstherapie?
Der Wirkstoff Liraglutid ist seit 2021 für die Behandlung von Adipositas bei Jugendlichen ab 12 Jahren zugelassen. Seit Sommer 2023 ist in Deutschland ein weiterer Wirkstoff namens Semaglutid verfügbar und kann ebenfalls ab 12 Jahren zur Gewichtsregulierung bei Adipositas und einem Körpergewicht über 60 kg verordnet werden. Die Abnehmmedikamente sollen den Heißhunger stoppen und länger satt machen. Eine aktuelle Studie untersucht derzeit die Zulassung von Liraglutid für Kinder ab sechs Jahren.
Die Spritze wird nicht einfach verabreicht, sondern ist Teil einer umfassenden Therapie mit Ernährungsumstellung und mehr Bewegung. Noch ungeklärt sind die langfristigen Risiken für Kinder, die in ihrer Wachstumsphase diese Wirkstoffe einmal wöchentlich gespritzt bekommen. Unklar ist bislang auch, ob Kinder lebenslang auf das Medikament angewiesen sein werden, um nicht wieder ein starkes Übergewicht zu entwickeln. Außerdem haben Patienten häufig – vor allem in der Anfangsphase – mit Nebenwirkungen wie Übelkeit und Durchfall oder Kopfschmerzen zu kämpfen.
Ernährungsexpertin Anika Kaspar von der Uniklinik Leipzig sieht die Abnehmmedikamente als unterstützende Option in Einzelfällen von extremer Adipositas: „Das Maß der Gewichtsabnahme ist enorm. Mit einer reinen Ernährungsumstellung schafft man diese Prozentzahlen oft nicht oder nur sehr schwer.“ Bevor diese Medikamente überhaupt verordnet werden, empfiehlt die Ernährungswissenschaftlerin spezielle Therapieprogramme, um das Gewicht zu stabilisieren.
Paul* war 13, als er vor drei Jahren an die Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendmedizin am Universitätsklinikum Leipzig kam. Er war ein Junge mit extremer Adipositas und hatte schon mehrere gescheiterte Diäten hinter sich. Sein Gewicht stieg besorgniserregend an. Das belastete nicht nur ihn selbst, sondern führte auch zu Verzweiflung und Konflikten in der Familie. Heute hat er seine Ernährung umgestellt, geht regelmäßig zum Boxtraining und ist stolz, wieder normalgewichtig zu sein. Geschafft hat er das mit Hilfe der Adipositas-Therapieprogramme der Uniklinik Leipzig.
„Obeldicks“ heißt ein einjähriges, standardisiertes Schulungsprogramm für übergewichtige Kinder und Jugendliche zwischen 7 und 14 Jahren. Dazu gehören Ernährungs-, Bewegungs- und Verhaltenstherapie. Die Familien werden beraten, Kinder und Jugendliche in Gruppen betreut. „Die Kinder sehen: Ich bin nicht alleine damit und die Motivation in der Gruppe zum Beispiel Sport zu machen, ist viel größer“, erzählt Ernährungswissenschaftlerin Anika Kaspar, die die Therapieprogramme koordiniert. Ein weiteres Konzept ist das „Leipziger Adipositasmanagement“. Das mehrjährige Programm wurde gemeinsam mit der Klinik für Erwachsenenmedizin entwickelt. Die Behandlung bietet auch eine individuelle Einzelbetreuung an. Nach dem ersten Therapiejahr ist eine weitere Nachsorge mit Ernährungsberatung möglich. Voraussetzung für beide Programme ist eine Überweisung des Kinderarztes.
Doch die Programme haben Grenzen, nicht immer kann eine Gewichtsstabilisierung erreicht werden. Ein Problem sind die Portionsgrößen, die oft unterschätzt werden. „Die Familien schaffen es häufig, einiges zu verändern. Aber wenn Kinder mehr essen, als sie eigentlich brauchen, kommt man auch in den Ernährungsschulungen nicht weiter,“ sagt Anika Kaspar. Die Gründe dafür können ganz unterschiedlich sein. Viele Kinder und Jugendliche essen nicht aus Hunger, sondern häufig auch aus Langeweile oder Stress.
Eines der wichtigsten Themen in den Ernährungskursen ist zu viel Zucker auf dem Speiseplan. Der steckt nicht nur in klassischen Süßigkeiten, sondern auch in Fruchtjoghurts, Pausensnacks, Puddings und gesüßten Getränken. „Säfte und Limonaden sind keine Durstlöscher. Auch der klassische Krümeltee ist immer noch weit verbreitet, auch wenn es schon viel Aufklärung gibt,“ weiß Ernährungswissenschaftlerin Anika Kaspar aus dem Beratungsalltag. Sie erzählt von einem kleinen Mädchen, das bereits mit drei Jahren krankhaftes Übergewicht hatte. Auch hier waren zu viel Süßigkeiten das Hauptproblem. In der Therapie wurden die Mengen schrittweise reduziert und teilweise durch Obst ersetzt. Innerhalb eines Jahres hat es die Familie geschafft, dass ihre Tochter wieder normalgewichtig ist. „An diesem Beispiel zeigt sich, dass es sich lohnen kann, bereits früh aktiv zu werden und mit ein paar kleinen Veränderungen viel bewirkt werden kann,“ so die Ernährungsexpertin.
Bei vielen Sportvereinen steht nur die Leistung im Vordergrund. Übergewichtige Kinder und Jugendliche haben da oft schlechtere Chancen. „Mein Wunsch wäre, dass mehr ansprechende Freizeitangebote für die Kids zur Verfügung stünden, wo sie am Nachmittag nach der Schule wohnungsnah hingehen können. Es sollte einen Ort geben, wo es möglich ist, seine eigenen Fähigkeiten und Stärken herausfinden zu können und diesen nachzugehen. Sei es beispielsweise, ohne lange Wartelisten eine Sportart auszuprobieren, bestmöglich mit seinen Freunden,“ erläutert die Expertin.
Auch Medienkonsum spielt eine Rolle, so treffen sich die Kids heute häufiger virtuell am Rechner und nicht mehr wie früher auf dem Bolzplatz.
Nur 10,8 Prozent der Mädchen und 20,9 Prozent der Jungen in Deutschland erreichen die von der WHO empfohlenen 60 Minuten Bewegung pro Tag.
So fordert die Stiftung Kindergesundheit in ihrem gerade erschienenen Gesundheitsbericht 2024, dass der Ort, wo Kinder die meiste Zeit verbringen, nämlich die Schule, auch ein Bewegungsort sein muss.
The Daily Mile
Über den Tellerrand geschaut, kann man von unseren Nachbarn lernen. So hat eine Bewegung, die an einer Grundschule in Schottland begann, unterdessen ganz Großbritannien „angesteckt“. Unter der Überschrift „The Daily Mile“ wird diese Initiative flächendeckend an Schulen praktiziert. Die Kinder absolvieren täglich 1,6 Kilometer, also 1 Meile, indem sie 15 Minuten in ihrem eigenen Tempo rennen oder joggen und zwar während einer Unterrichtseinheit. Der Effekt: Sie sind anschließend konzentrierter bei der Sache und ganz nebenbei wird dem Übergewicht zu Leibe gerückt, was auch auf der Insel ein Problem ist. Die Erfolge sind erstaunlich. Das Gute: Auch bei uns macht diese Initiative Schule.
Über die Webadresse www.thedailymile.de kann man sich als Schule registrieren lassen und bekommt kompetente Anleitung. The Daily Mile ist kostenlos und einfach in der Umsetzung. Es gibt keinen zusätzlichen Arbeitsmehraufwand für Lehrkräfte.
Info:
Kindergesundheitsbericht 2024: Fokus: Schule und Gesundheit
www.kindergesundheit.de
*Name von der Redaktion geändert