Warum Schüler den Unterricht schwänzen
Warum und wie viele Kinder und Jugendliche die Schule meiden, konnte jahrelang nur vermutet und geschätzt werden. Doch seit 2012 gibt es erstmals Zahlen und Fakten – aus einer Studie […]
Eine Schule, in der es weder Zensuren gibt, noch Klassen. Eine Schule, in der Kinder selbst entscheiden können, was sie lernen wollen und wann sie frei haben. Eine Schule, in der Lehrer Lernbegleiterinnen und Lernbegleiter heißen. Das klingt nach einem Schulmodell, das sogar Pippi Langstrumpf Spaß gemacht hätte. Zu märchenhaft, um wahr zu sein. Doch diese Schule gibt es tatsächlich! Und zwar in Dresden.
Zugegeben, ihr Name klingt etwas weniger fantasievoll: Universitätsschule Dresden. Doch was dort passiert, ist ein Reallabor für die Zukunft. Der Name der Schule ist in diesem Zusammenhang Programm, denn alles, was in der Schule passiert, wird an der TU Dresden wissenschaftlich begleitet und evaluiert. Doch bevor es einen funktionierenden Schulbetrieb geben konnte, musste Schulleiterin Maxi Heß so manche Hürde überwinden. Das fing schon beim Gebäude an: „Die Schule ist ein ganz altes DDR-Gebäude, und als ich sie mir das erste Mal angeschaut habe, war ich ziemlich erschrocken. Die Fenster waren kaputt, die Böden wellten sich, in den Wänden waren riesengroße Löcher, und aus den Ritzen wuchs schon Klee. Da sagte man mir: Seien Sie froh, dass es nicht rein regnet, und schauen Sie erst einmal, ob Sie das erste Jahr schaffen.“
Das war im Februar 2019 – im August sollte der Schulbetrieb starten. Mit viel persönlichem Engagement, aber auch mit Unterstützung vonseiten der Stadt Dresden, in deren Trägerschaft sich die Schule befindet, konnte das Gebäude so weit instandgesetzt werden, dass Unterricht möglich war. Inzwischen ist es um mobile Räume erweitert worden, und in ein paar Jahren soll es ein neues Lernhaus geben. Was aber in den Räumen der alten DDR-Plattenbauschule seinen Anfang genommen hat, könnte zum Ideal für die Schule der Zukunft werden.
Hier wird das Lernen von morgen ausprobiert – in Lerngruppen statt Klassen und mit Lernbausteinen statt Fächern, auf dem Fußboden oder irgendwo draußen statt am Tisch im Klassenraum. Bezugsgruppen der Schülerinnen und Schüler sind die sogenannten Stammgruppen. Sie bilden neben den sich stets neu organisierenden Lerngruppen den verlässlichen Bezugsrahmen, den früher der Klassenverband darstellte.
In der Universitätsschule ist manches anders, schon beim Betreten des Gebäudes. Jedes Kind meldet sich per Chip an einem Terminal an. „Dazu nutzen wir eine schuleigene Software. In der kann ich dann sehen, welches Kind da ist. Auch die Eltern bekommen eine Info, dass das Kind in der Schule angekommen ist oder die Schule gerade verlassen hat. Auch für die Lernbegleitenden ist das hilfreich; so sehen sie sofort: Wer von meiner Stammgruppe ist da? Wer fehlt noch? Das ist wichtig, denn das Schulprogramm ist äußerst komplex. Die Schülerinnen und Schüler arbeiten den Tag über in verschiedenen Konstellationen und in unterschiedlichen Räumen. Sie planen ihre Woche selbstständig und buchen Zeitfenster und Lernzeiten. Dafür ist es wichtig zu wissen, ob die Kinder denn auch angekommen sind.
Die Kinder können also frei entscheiden, was sie lernen und wie. Wie aber schafft es die Schule, dass die Kinder nicht nur ihr Lieblingsgebiet bearbeiten, sondern sich auch weniger beliebte Themen vornehmen? Schulleiterin Maxi Heß gibt zu, dass das ein bisschen die Quadratur des Kreises ist. Einerseits möchte die Schule ein Maximum an Selbstständigkeit bei den Schülerinnen erreichen, andererseits müssen sie sich auch Tests unterziehen und später einmal Prüfungen ablegen. Hier sind dann die Lernbegleitenden gefragt. Deren Aufgaben unterscheiden sich von denen der Lehrerinnen und Lehrer an einer „normalen“ Schule. Sie müssen jedes einzelne Kind im Blick behalten und erkennen: Diese Schülerin beispielsweise ist in Mathematik sehr weit und löst Aufgaben, die normalerweise erst zwei Jahre später im Lehrplan vorgesehen sind, aber dafür hapert es bei ihr in Englisch. „Dann ist es die Aufgabe der Lernbegleitenden, in einem Entwicklungsgespräch genau das mit ihr zu besprechen – so nach dem Motto: Das ist wunderbar, dass du in Mathematik so viel gemacht hast. Aber in deinem nächsten Projekt sollte das Hauptaugenmerk auf der Sprache liegen.“ Solche sogenannten Zielvereinbarungsgespräche finden alle sechs Wochen statt. Auch dort hilft die schuleigene Software, die in digitalen Kompetenzrastern genau auflistet, wo Stärken und Schwächen liegen, welche Dinge noch mehr geübt werden müssen. Das heißt dann für die Schülerin, dass sie den Tipp bekommt, sich in der nächsten Woche mal in der Sprechstunde bei der Sprachenlehrerin einzubuchen, um mit ihr darüber zu sprechen, welche Möglichkeiten es gibt, Englisch ein wenig zu pushen. „Genau das ist die Aufgabe der Lernbegleitung“, sagt Maxi Heß.
Bei so viel Neuem – sind da Schülerschaft oder Lernbegleiter auch mal desillusioniert oder überfordert? Gibt es die Vokabel Schulfrust an der Universitätsschule Dresden? Die Schulleiterin lacht: „Das gibt es bei uns wenig. Das liegt daran, dass die Selbstwirksamkeit bei uns so hoch ist. Als Lernende oder auch Lehrende an der Unischule habe ich ganz viel in meiner eigenen Verantwortung. Damit erlebe ich auch meine eigenen Erfolge.“
Eine solche Schule klingt nach Elitenbildung – einige wenige kommen in den Genuss von etwas ganz Großem. Doch genau das Gegenteil ist der Fall: Die Universitätsschule ist eine inklusive Gemeinschaftsschule, das heißt – alle Schulmodelle sind hier vereint. Bei der Aufnahme hilft ein Algorithmus, die passenden Kinder zu finden. Sie sollen ein Abbild der gesellschaftlichen Realität darstellen und Kriterien wie Geschlecht, migrantischen Hintergrund, Deutsch als Erst- oder Zweitsprache, Eltern mit oder ohne Hochschulabschluss berücksichtigen. Denn längst ist klar – heterogene Lerngruppen befruchten sich gegenseitig. Die guten Schüler stärken ihre Kompetenzen, indem sie den anderen helfen, und die schwächeren werden von den anderen mitgezogen und motiviert.
Deshalb verteilen sich auch die Urlaubszeiten in der Unischule anders. Maximal zwei Wochen am Stück bleibt die Schule geschlossen – eine sechswöchige Sommerpause gibt es an der Universitätsschule nicht. Warum? Pädagogische Studien haben gezeigt, dass bei langen Sommerpausen besonders die sozial benachteiligten Kinder Schwierigkeiten bekommen. Sie haben nämlich durch die lange Abwesenheit sehr oft den Lernstoff vergessen und brauchen jedes Schuljahr aufs Neue einen langen Zeitraum, um wieder auf das Niveau von vor den Ferien zu kommen.
Der Schulversuch läuft nun seit 5 Jahren – auf 15 Jahre ist er angelegt. Schon heute kopieren einige Schulen einzelne Module. Denn klar ist: Die Kinder von heute brauchen andere Lernstrategien als die, welche aktuell noch immer das Schulwesen dominieren.
Die Universitätsschule Dresden geht einen großen Schritt voraus!