Mehr Magersucht seit Corona

Von Jana Olsen

Nicht nur Übergewicht hat seit der Pandemie zugenommen, sondern auch das andere Extrem, die Magersucht. Die Erkrankung kann schwere gesundheitliche Folgen für Nieren und Herz haben. Die Sterberate ist die höchste aller psychischen Erkrankungen bei Jugendlichen und liegt bei etwa zehn Prozent.
Professor Stefan Ehrlich ist Leiter des Zentrums für Essstörungen der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Uniklinikum Dresden und hat der Kinderstube einige Fragen beantwortet.

Ist das auch bei Ihnen an der Klinik zu beobachten, dass Fälle von Magersucht zugenommen haben?
Das ist auf jeden Fall so. Die Wartelisten sind noch länger als sonst. Es gibt mehr Akutanfragen aus den Kinderkliniken. Es gibt zudem erste Daten aus anderen Ländern, die das stützen. Dafür gibt es sicherlich verschiedene Ursachen wie Schulschließungen, verringerte Kontakte, verringerte Tagesrhythmik, mehr Social Media. Aber auch allgemein mehr Konflikte in der Pandemiezeit, die Trigger sein können.

Sind die betroffenen Altersgruppen jünger geworden?
Wir sehen seit Jahren den Trend hin zu jüngeren Patienten, wir haben sogar 8- oder 9-Jährige in Behandlung. Das liegt sicherlich daran, dass die Pubertät heute früher einsetzt als noch vor 30, 40 Jahren. Wir wissen, dass der Krankheitsausbruch häufig mit der Pubertät zu tun hat. Warum genau, ist nicht hundertprozentig geklärt. Da gibt es psychologische Modelle, die sagen, hier entwickeln sich die körperlichen Geschlechtsmerkmale, die von den Betroffenen nicht als positiv erlebt werden. Es können aber auch Dinge sein, die rein auf der hormonellen Ebene ablaufen, wo bestimmte Netzwerke im Gehirn durch erhöhte Östrogenspiegel gestört sind, die machen dann anfälliger für die Erkrankung.

Was sind Warnsignale?
Ein klassisches Warnsignal ist die verstärkte Beschäftigung mit Essen, mit gesundem Essen, dem Aufstellen von Ernährungsplänen, das Zählen von Kalorien. Natürlich probieren viele Jugendliche wie Erwachsene Diäten.
Eine typische Krankheitsgeschichte:
Drei beste Freundinnen testen eine Diät. Der ersten ist es nach einer Woche zu nervig, der zweiten nach drei Wochen und die dritte zieht das durch, zieht daraus einen gewissen Stolz und rutscht in die Magersucht. Ein weiteres Warnsignal ist, wenn sozialer Rückzug eintritt, von Freunden, von Tätigkeiten, die früher Spaß gemacht haben. Hinzu kommt, dass sich die Betroffenen sehr auf Schulthemen fokussieren, häufig werden sie anfangs sogar besser in der Schule. Gehäuftes Sporttreiben ist typisch. Dann haben wir noch den Bereich der verstärkten Beschäftigung mit dem eigenen Körper, sich vor dem Spiegel zu checken, sich immer wieder zu wiegen, den Bauchumfang zu messen. Manche fokussieren sich auf den sogenannten ,Thigh Gap‘, das Dreieck oder die Lücke zwischen den Oberschenkeln, die auf Social Media als Schönheitsideal gehypt wird.

Wann sollten Eltern aktiv nach Hilfe suchen?
Die Frage ist immer: Wie war die Person vorher? Gab es eine Verhaltensänderung? Es ist häufig eine Kombination von verschiedenen Dingen. Wir erleben oft, dass Angehörige sich zwar Sorgen machen, es aber nicht ansprechen, aus Angst vor negativen Reaktionen. Wobei man wissen muss, dass diese negative Reaktion kommen kann. Aber es ist wichtig, darüber zu sprechen. Denn es bringt etwas in Gang. Es ist ein Zeichen, dass der andere einen sieht, sich kümmert.

Was ist die erste Anlaufstelle?
Wenn sich die Sorgen auf Elternseite mehren, sollte man das beim Kinderarzt ansprechen. Der Kinderarzt hat manchmal eine bessere Chance, zu den Jugendlichen durchzudringen, weil zur Jugendlichkeit oft gehört, dass das, was die Eltern sagen, nicht so viel Gewicht hat.

Auf welchen Therapiezeitraum muss man sich einstellen?
Es gibt verschiedene Therapieformen, von ambulant über tagesklinisch bis stationär. Wenn man früh dran ist, kann man versuchen, das ambulant abzufangen. Da muss man mit einem Zeitrahmen von ein bis zwei Jahren rechnen, die Therapie kann parallel zum normalen Alltag laufen. Die stationäre
Therapie dauert meist drei Monate, da werden die Patienten aber komplett aus ihrem Umfeld gerissen. Das ist nicht immer einfach.

Gibt es neue Behandlungsstrategien?
Momentan wird im amerikanischen Raum viel am sogenannten higher-calorie refeeding geforscht. Das heißt, man versucht schneller eine Gewichtszunahme zu erreichen als das bis jetzt üblich war. Früher hat man 500 bis 700 Gramm pro Woche angestrebt. Beim higher-calorie refeeding strebt man eine Zunahme von ein bis 1,5 Kilo pro Woche an, weil man gelernt hat, frühzeitig bestimmte Komplikationen in den Griff zu kriegen. Das hat den Vorteil, dass der stationäre Aufenthalt nicht so lang ist, die Jugendlichen nicht so lange von zu Hause weg sind.

Allein mit Essen ist eine solche Gewichtszunahme kaum zu schaffen, oder?
Das ist unterschiedlich. Im stationären Umfeld funktioniert das, teilweise wird das mit Magensonden gemacht. Das ist eine neue Strategie, die noch diskutiert wird. Eine andere ist, dass man stationär anfängt und frühzeitig auf eine tagesklinische Behandlung umsteigt. Auch mit dem Ziel, nicht so lange das häusliche Umfeld verlassen zu müssen.

Worauf liegt der Fokus in der Psychotherapie?
Womit die Patienten am meisten kämpfen, ist die Körperschemastörung. Also, dass sie sich selbst als dick und hässlich sehen und nicht wahrnehmen, dass sie schon sehr dünn sind. Ein Baustein hier ist die Körpertherapie. Da gibt es verschiedene Elemente, mit Übungen, Massage, Selbstmassage, Körpergrenzen
erfahren, Körperumrisse malen und so weiter. Kernstück ist die Spiegelkonfrontation. Das heißt, durch eine Therapeutin angeleitet den Körper anzuschauen,
schöne Stellen zu finden. Weitere Themen sind der Umgang mit Emotionen und wie man Emotionen ausdrückt, auch negative, die Stärkung des Selbstwertgefühls und Konfliktfähigkeit. Bei unseren Patientinnen ist es oft so, dass sie in keinem Bereich in Konflikte gehen, außer im Bereich Essen.

Wie können Angehörige Unterstützung und Hilfe finden?
Das Netzwerk Essstörungen Sachsen (NESSA) ist eine Dachorganisation für Experten und Hilfsnetzwerke, von denen es in Sachsen noch weniger gibt als in den anderen Bundesländern. Betroffene und Angehörige können sich an das Netzwerk wenden und werden weitervermittelt. Es gibt einige wenige Selbsthilfegruppen, zum Beispiel eine sehr aktive in Meißen. Es gibt eine Selbsthilfegruppe in Dresden für junge ehemalige Patienten. Auch die Familienberatungsstellen können helfen und natürlich die kinderpsychiatrischen Kliniken.

www.nessa-sachsen.de
www.bundesfachverbandessstoerungen.de
www.ukdd.de/KJP-ZfE

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