Leo war schon als Baby „irgendwie anders“. Er lächelte nicht und reagierte nicht auf den Anblick oder die Worte der Eltern. Wenn er schrie, war er durch nichts zu besänftigen. Wollten seine Eltern mit ihm schmusen, machte er sich steif. Auch die Ernährung war ein Problem: Trinken, Kauen, Schlucken fielen ihm schwer und ein ungewohnter Geschmack führte zu kompletter Verweigerung.
Leo lernte spät laufen und bewegt sich bis heute auffallend ungeschickt. Spielzeug interessierte ihn wenig, es sei denn, es hatte Räder, die er stundenlang drehen konnte. Seine Bausteine sortierte er nach Farben und Größen, und wenn jemand sie anfasste, bekam er Wutausbrüche. Am liebsten lauschte er entrückt dem Ticken des Weckers und wiegte sich dazu im Takt. Sich selbst zu wiegen oder zu schaukeln schien für ihn lange Zeit die einzige Möglichkeit zu sein, sich zu beruhigen, wenn ihn etwas zur Verzweiflung gebracht hatte – und das passierte oft, schon bei kleinsten Veränderungen gewohnter Abläufe. Der Versuch einer Kita-Eingewöhnung mit zwei Jahren scheiterte, da Leo unaufhörlich schrie und bei Annäherung der Erzieher oder Kinder um sich schlug.
ZWISCHEN HOFFNUNG UND ANGST
Für alle unerwartet begann er, der vorher kein Wort rausbrachte, mit dreieinhalb gleich in vollständigen Sätzen zu sprechen. Leo verfügte mit knapp fünf Jahren über ein umfangreiches und detailliertes Saurierwissen, über das er gern und ausführlich sprach. Die Eltern freuten sich über diese unverhofften Fortschritte. Beim An- und Ausziehen sowie beim Essen blieb er ungeschickt. Auch mit der Sauberkeit wollte es nicht recht vorangehen – obwohl Leo inzwischen sprach wie ein kleiner Professor, waren die Hosen oft nass. Natürlich waren Leos Eltern wegen seiner Entwicklung besorgt. Ihre erfahrene Kinderärztin beruhigte sie jedoch: „Kinder sind eben sehr verschieden, manche sind Spätentwickler… Achten Sie doch mal darauf, was er alles kann…“. Die Ärztin verschrieb zur Entwicklungsförderung Physio-, Sprach- und Ergotherapie. Die scheiterten oft, weil sich Leo verweigerte oder zu geringe Fortschritte machte. Und so schwankten die Eltern zwischen der Hoffnung, es würde sich alles verwachsen und der Angst, ihr Leo könne im Leben niemals bestehen.
WAREN SIE SCHON MAL BEIM PSYCHOLOGEN?
Nach den ersten Wochen in der Schule bittet die Lehrerin die Eltern um ein Gespräch. „Niemand will mehr neben Leo sitzen, weil er sofort schreit, wenn ihm jemand zu nah kommt. Sein Schriftbild ist eine Katastrophe, auf Fragen antwortet er nicht. Dann wieder sagt er erstaunlich kluge Sachen. An manchen Tagen ist er völlig unkonzentriert und zappelig oder flattert so komisch mit den Händen. Das stört den Unterricht. Frage ich, warum er das tut, schaut er durch mich durch und sagt kein Wort. Das ist doch nicht normal, waren Sie schon mal beim Psychologen?“. Darüber hatten Leos Eltern auch schon nachgedacht. Ein paar Tage später kam der Anruf der völlig aufgelösten Lehrerin: „Wir mussten die Feuerwehr rufen, Leo ist in der Notaufnahme. Auf dem Schulhof müssen ihn die Kinder geärgert haben, sodass er völlig ausgerastet ist. Er hat so lange mit dem Kopf gegen die Mauer geschlagen, bis alles voller Blut war. Die Kollegen mussten ihn zu dritt festhalten…“.
UNERWARTETE DIAGNOSE
Nach einem ausführlichen Gespräch mit einem Arzt aus der Kinder- und Jugendpsychiatrie, stimmten die Eltern dem Vorschlag zu, Leo stationär zur Diagnostik aufzunehmen. Es folgten drei anstrengende Wochen mit Gesprächen, und Fragebögen sowie psychologischen Tests und Verhaltensbeobachtungen. Am Ende stand die Diagnose „Autismus-Spektrum-Störung“.
Der Begriff „Autismus“ wurde erstmals 1943 vom Kinderpsychiater Leo Kanner als Diagnose gestellt und bezog sich auf behinderte Kinder, die sehr früh auffällig waren, weil sie nicht sprechen und nicht mit ihrer Umwelt kommunizieren konnten. Der Begriff „Asperger-Syndrom“ steht für eine besondere Form des Autismus. Kinder, auf die diese Diagnose zutrifft, können sprechen und verfügen über eine normale, manchmal in Teilbereichen sogar überragende Intelligenz. Neben Beziehungs- und Kommunikationsstörungen gehören auch stereotype Verhaltensmuster oder Interessen zum Bild. Da die Art und Ausprägung der autistischen Symptome von „schwer behindert“ bis „fast normal“ reichen und sich im Verlauf der Entwicklung auch verändern können, benutzt man heute den Begriff „Autismus-Spektrum-Störung“. Etwa ein Prozent der Bevölkerung ist betroffen, Jungen viermal häufiger als Mädchen.
Für eine sichere Diagnose braucht es Erfahrung und spezielle diagnostische Verfahren. Autismus ist nicht heilbar. Aber es gibt viele Mittel und Wege, die Kinder zu unterstützen und ihnen sowie ihren Bezugspersonen das Leben zu erleichtern. Dazu gehört vor allem eine gute Elternberatung, um das Kind besser zu verstehen und mit angemessenen Methoden in seiner Entwicklung zu fördern. Es gibt verhaltenstherapeutische Förderprogramme und Trainings, die in spezialisierten Beratungsstellen angeboten werden. Für die schulische Unterstützung gibt es den „Förderschwerpunkt Autismus“, unter dem den Kindern ein Nachteilsausgleich zusteht und über den zum Beispiel Schulhelfer oder Förderstunden finanziert werden. Jedes autistische Kind ist auf seine Art besonders und entwickelt sich auf seine eigene Weise.
DAS INNENLEBEN
Autistische Kinder können sich nicht vorstellen, wie andere denken und fühlen. Ihr Verhalten bleibt ihnen unverständlich, unvorhersehbar und kann bedrohlich wirken. Blickkontakt und Berührungen lösen oft sehr unangenehme Gefühle aus. Deshalb sind sie lieber allein und ziehen sich in ihre eigene Welt zurück. Da Reize im Gehirn autistischer Menschen anders wahrgenommen und verarbeitet werden, führt das zu schwer nachvollziehbaren Reaktionen. Leo zum Beispiel nimmt extrem viele Einzelheiten wahr, kann sie aber nicht zu einem sinnvollen Gesamteindruck verarbeiten, sodass er in einem ständigen inneren Chaos auf ihn einstürzender Wahrnehmungen lebt. Das starre Festhalten an Gewohnheiten, das Wiederholen immer gleicher, manchmal sinnlos erscheinender Handlungen und die Konzentration auf spezielle Interessen hilft diesen Menschen, die innere Welt zu ordnen und gibt Sicherheit. Auch soziale Umgangsregeln verstehen Autisten nicht. Sie fallen deshalb oft negativ auf. Es ist allerdings ein Irrtum, dass Autisten keine Gefühle haben – es fällt ihnen nur schwer, sie einzuordnen und auszudrücken!
MIT PLÄNEN UND HELFERN BESSER DURCH DEN ALLTAG
Leos Eltern haben bei anderen Familien Rat und Hilfe gefunden, und sie haben viel gelesen. Am meisten beeindruckt sind sie von den Büchern autistischer Autoren, die als Erwachsene über ihre Erfahrungswelt schreiben. Für alles, was Leo neu lernen muss, gibt es nun einen „Handlungsplan“, an dem er sich orientieren kann, Tages- und Wochenpläne strukturieren seinen Alltag. Vieles haben seine Eltern zusammen mit ihrer Therapeutin in der Autismus-Ambulanz erarbeitet. Leo geht einmal in der Woche zum „sozialen Kompetenztraining“, wo er in einer kleinen Gruppe autistischer Kinder wichtige soziale Regeln verstehen lernt und übt. In der Schule unterstützt ihn für einige Stunden ein Schulhelfer. Leo mag Naturwissenschaften, liest gern Sachbücher und ist immer noch Spezialist für Saurier. Ausgedachte Geschichten in Kinderbüchern findet er langweilig. Er meidet weiter den Kontakt zu Mitschülern, wird aber für sein Wissen respektiert, besonders seit der Schulhelfer ihnen erklärt hat, warum Leo so „anders“ ist.
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