Fitmacher – Turnen vor der Haustür

Von Eva Jobst
Bisher haben sich deutschlandweit mehr als 300 Turnvereine angemeldet, um dieses Angebot in ihrem Umfeld gut sichtbar anzubringen. Auch einige Vereine aus Sachsen sind dabei, zum Beispiel in Hainichen und Colditz, Dresden und Leipzig.

Sind Sie schon einmal an einer Bewegungshaltestelle vorbeigekommen? Nein? Dann passen Sie zukünftig gut auf! Langsam, aber unaufhaltsam erobern solche Haltestellen gerade das Land. Die Idee entwickelte der Deutsche Turner-Bund (DTB) gemeinsam mit der Deutschen Turnerjugend (DTJ) und der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA). Und dafür gibt es einen wichtigen Grund.

CORONA UND VIELE „NEBENWIRKUNGEN“

Das betrifft ganz besonders das Leben von Kindern. Geschlossene Kitas und Homeschooling sorgten nicht nur für Stress, sondern auch für einen oft stark ausgeprägten Bewegungsmangel. Kontaktbeschränkungen führten dazu, dass auch außerschulischer Sport nicht stattfinden konnte. Besonders für kleinere Kinder kann dieser Mangel an körperlichen Aktivitäten zu einem Problem werden, das auch nach dem Ende der Pandemie kein Ende findet.

Kinder schließen sich die Welt durch Bewegung.

Kerstin Holze, Fachärztin in einer Kinderklinik in Mecklenburg-Vorpommern und Vorsitzende der Deutschen Kinderturn-Stiftung, sieht die Entwicklung mit Sorge: „Es gibt für das Erlernen motorischer Grundfertigkeiten das sogenannte goldene Lernalter. Zwischen 7 und 11 ist die kindliche Entwicklung besonders empfänglich dafür, sich gewisse grundmotorische Elemente anzueignen. Dieses goldene Lernalter lässt sich nicht pandemiebedingt verschieben.“
Kinder, die sich wenig bewegen, haben nicht nur das Risiko, Fitnessprobleme und Übergewicht zu entwickeln, sondern auch eine Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörung (ADHS) zu erleiden, das haben Studien nachgewiesen.

MIT BEWEGUNG DIE WELT ERSCHLIESSEN

In einem Skype-Interview mit der Kinderstube schilderten Martin Frickmann, Vorsitzender der Sächsischen Turnerjugend (Dresden), und Christian Keipert, Vorsitzender der Deutschen Turnerjugend (Sindelfingen), die wachsenden Probleme: Selbst den Kindern, die vor der Pandemie Sport getrieben hatten, merke man den Bewegungsmangel an. Sie verletzten sich viel öfter als früher und seien zu langsam, berichtet Frickmann. Dabei hat Sport wichtige Effekte, die über die reine Bewegung hinausgehen. „Kinder erschließen sich die Welt durch Bewegung“, merkt Christian Keipert an. „So tasten sie sich regelrecht an die Welt heran.“ Darüber hinaus hat „Sport positive Quereffekte und steigert die Leistungsfähigkeit auch in Mathe“.
Und einen weiteren Aspekt sprechen die Interviewpartner an: Gesundes Aufwachsen mit viel körperlicher Aktivität spart langfristig Kosten im Gesundheitswesen.
Beide sehen das Problem weniger bei Kindern, die bereits in einem Verein aktiv sind. Sie bleiben in der Regel bei der Stange, auch wenn zwischenzeitlich
die Hallen wegen der Pandemie oft geschlossen bleiben mussten.
Schwierig ist es bei denen, die den Weg zum Sport noch nicht gefunden haben. Und das ist problematisch, denn „Wer in ganz jungem Alter den Einstieg in den Sport nicht schafft, der schafft es in der Regel gar nicht mehr“, dessen ist sich Christian Keipert sicher. Und Martin Frickmann ergänzt: „Kinder wollen sich bewegen, aber sie brauchen auch die Möglichkeit dazu.“ Hier setzen die Bewegungshaltestellen an, ganz niedrigschwellig – zum Beispiel im Wohnumfeld.

RAN AN DIE BEWEGUNGSHALTESTELLEN

Denn jedes Kind hat, auch gemäß der UN-Kinderrechtskonvention, nicht nur ein Recht auf Gleichheit, Bildung und Schutz vor Gewalt, sondern auch auf Gesundheit, Spiel und Freizeit. Bewegungshaltestellen bieten dafür einen ganz einfachen und überall realisierbaren Einstieg, um Kinder zu reaktivieren und für das Turnen zu begeistern. Vereine können die Schilder bestellen, insgesamt zehn. Die werden dann im Ort aufgehängt. Die Schilder sind mit einem QR-Code ausgerüstet, der kann mit dem Handy gescannt werden. Zehn verschiedene Bewegungsaufgaben sind im Angebot, die ohne großen Aufwand, aber mit viel Spaß umgesetzt werden können.

Beispiel Körperwahrnehmung:
Wie steigt der Puls nach einer Minute Laufen oder Hampelmann?
Bei einem Parcours werden Hindernisse möglichst schnell überwunden und dabei kleine Kunststücke gemacht.

Beispiel Improvisation:
Auch mit Ästen und Steinen lässt sich gut Boccia spielen – das beweist eine weitere Station.

Beispiel Wahrnehmung:
Mit verbundenen Augen ist ein Baum zu erfühlen.

Kleine Videos mit Sarah Voss, mehrfache deutsche Meisterin im Turnen, laden zu verschiedenen Übungen, aber auch zum Tanz ein und runden das Angebot der Bewegungshaltestellen ab.

Niederschmetternde Zahlen
Auch die Leopoldina, die Nationale Akademie der Wissenschaften, hat das Problem untersucht und fordert den „Ausbau einer bewegungsfördernden Infrastruktur für Kinder und Jugendliche“. Denn die Ergebnisse waren niederschmetternd:
„Die körperlichen Alltagsaktivitäten von Kindern und Jugendlichen nahmen im zweiten Lockdown bei einer Befragung Ende Januar/Anfang Februar 2021 im Vergleich zum ersten Lockdown deutlich ab (von 146,8 Minuten pro Tag im ersten Lockdown auf 62,2 Minuten pro Tag im zweiten Lockdown). Dabei hatten während der Pandemie die Kinder am wenigsten Bewegung, die in städtischen Wohnungen ohne Gartenzugang zu Hause waren. Insgesamt ging die sportliche Aktivität (organisiert und unorganisiert) von 32,5 Minuten pro Tag vor der Pandemie auf 13,6 Minuten pro Tag im zweiten Lockdown zurück. Damit fehlten vor allem körperliche Aktivitäten mit höherer Intensität. Zudem haben die ‚Sitz- bzw. Inaktivitätszeiten‘ stark zugenommen, was sich zum Beispiel in der Erhöhung der Bildschirmzeiten in der Freizeit von 133 Minuten pro Tag auf 222 Minuten pro Tag zeigt.“

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