Das stille Drama im Mutterleib

Von Claudia Hempel

Tom wird plötzlich und scheinbar aus dem nichts zum rasenden Wüterich, der selbst Erwachsene in Angst und Schrecken versetzt. „Ich erinnere mich noch genau an eine Situation im Urlaub – was ich genau zu ihm gesagt habe, weiß ich nicht mehr, so etwas wie: ‚Zieh dich an, wir wollen raus, ein bisschen spazieren gehen‘, jedenfalls dreht sich Tom einfach um, reißt das Fenster auf und schmeißt alle Sachen, die er gerade greifen kann, aus dem Fenster unserer Unterkunft. Sie können sich nicht vorstellen, wie peinlich uns das war!“ noch heute schüttelt Gerhild Landeck ungläubig den Kopf, wenn sie an die Erlebnisse denkt, die sie mit Tom durchgemacht hat. Dabei kann er auch wieder so ein reizender Junge sein.

Mit 6 Jahren, kurz vor seiner Schuleinführung, kommt Tom in seine Pflegefamilie. Er soll dringend aus dem Kinderheim raus, damit er den Schulstart in einer stabilen und liebevollen Umgebung erleben kann. Damals kamen „diese Ausraster“, wie Gerhild Landeck die Wutanfälle ihres Pflegesohnes heute nennt, auch schon vor, aber sie waren seltener und weniger extrem.

Sie wendet sich mit ihren Sorgen an einen Kinderarzt und später an einen Kinderpsychologen; von ihnen erfährt sie, dass Tom, der von seinem 3. bis zum 6. Lebensjahr im Kinderheim gelebt hat, traumatisiert ist. Doch das hilft Gerhild Landeck nicht weiter. Obwohl sich Tom in seiner neuen Umgebung sichtlich wohl fühlt, scheint die Geborgenheit in der Familie seine Wut nicht besänftigen zu können. Im Gegenteil, die Attacken werden heftiger und auch in der Schule bekommt er Probleme. Innerhalb von zwei Schuljahren muss er viermal die Schule wechseln, weil sich seine Mitschüler Vor ihm ängstigen und die Lehrer ratlos sind. Niemand ahnt damals, dass seine Wutanfälle und dieser kleine Wirbel im Nacken, den seine Pflegefamilie so süß findet, typische Zeichen für eine tückische Krankheit sind. Tom leidet unter dem Fetalen Alkoholsyndrom (FAS), denn Toms leibliche Mutter war Alkoholikerin. Ungeborene sind dem Alkoholkonsum der Mutter hilflos ausgesetzt und leiden lebenslang an den Folgen.

Kinder alkoholabhängiger Mütter kommen meist früher auf die Welt, sind kleiner und zierlicher. Manche entwickeln eine Gaumenspalte, andere haben Herzprobleme. Erste Langzeitbeobachtungen zeigen nun, dass FAS-Kinder auch Defizite der Intelligenz und vor allem im Sozialverhalten aufweisen. Mediziner der Universität Seattle haben festgestellt, dass keines der von ihnen betreuten alkoholgeschädigten Kinder später in der Lage war, sich selbstständig um seinen Lebensunterhalt zu kümmern.

Obwohl Schädigungen durch Alkohol während der Schwangerschaft die Kinder fürs ganze Leben zeichnen, rückt das Phänomen FAS erst jetzt stärker in den Fokus von Wissenschaftlern und Kinderärzten. Dabei kommen in Deutschland pro Jahr etwa 3000 Kinder mit einer schweren Alkoholerkrankung auf die Welt, die leichteren Fälle werden auf 15.000 bis 30.000 geschätzt.

Im Vergleich dazu scheinen die 800 Kinder, die in Deutschland jährlich mit Down-Syndrom zur Welt kommen, in der Öffentlichkeit wesentlich bewusster wahrgenommen zu werden. Das mag daran liegen, dass Alkohol in der Schwangerschaft nach wie vor ein Tabuthema ist. Allzu oft fragen Ärzte nicht streng genug nach. Alkoholkranke Schwangere hingegen trauen sich aus Scham oft nicht, um Hilfe zu bitten.

Noch vor ein paar Jahrzehnten tranken Frauen generell weniger Alkohol, sodass es auch weniger geschädigte Kinder gab. Daher wurden auch Langzeitfolgen wie verminderte Intelligenz oder eine geringe Stresstoleranz jahrelang nicht mit dem Alkoholkonsum der Mutter in Zusammenhang gebracht, sondern mit sozialen Defiziten erklärt. In Folge allgemein veränderter Konsumgewohnheiten rücken heute alkoholabhängige Schwangere jedoch stärker in den Blick.


Bis heute ist es schwer, geeignete Ansprechpartner zu finden, weiß Gerhild Landeck, denn die einzigen Kompetenzzentren sind in Münster oder Berlin. Damit sich das ändert, ist sie Mitglied im bundesweiten Netzwerk „FASworld Deutschland“ und dort gleichzeitig Ansprechpartnerin für die Bundesländer Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. 

Tom ist heute Mitte 20 „und hat für sich einen Weg gefunden“, sagt sie. Doch was ihm fehlt, ist vorausschauendes Denken. „Das macht das Leben nicht gerade leicht.“

Wie schädigt Alkohol das Ungeborene?

Bereits kleine Mengen Alkohol wirken auf das ungeborene Kind wie ein starkes Gift. Schon nach kurzer Zeit hat es den gleichen Alkoholspiegel wie die Mutter. Da die Leber noch nicht voll entwickelt ist, kann der Alkohol nicht abgebaut werden. Das führt zu einer Hemmung des Zellwachstums, insbesondere der Nervenzellen. Die Folge: Missbildungen an Glied- maßen und Organen und verminderte Hirnleistung. Diese Schäden sind nicht wieder gutzumachen.

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