Grenzsituation: Exzessives Schreien von Babys

Von Claudia Hempel

Das Babys häufig schreien, ist erst einmal normal. Doch wenn alle Versuche der Eltern, das Kind zu beruhigen, erfolglos bleiben, kann das Gefühle der Hilflosigkeit, Frustration und Wut auslösen.

Babys schreien ab der 2. bis zur 6. Lebenswoche durchschnittlich zwei Stunden am Tag.
Ist das Kind auch nach längerer Zeit scheinbar gar nicht zu beruhigen, kann es im schlimmsten Fall passieren, dass völlig überforderte Eltern ihr Kind durch Schütteln zur Ruhe bringen wollen. Eine fatale Kurzschlusshandlung, die manchmal sogar zum Tod des Babys führt, sehr wahrscheinlich aber mit lebenslangen Beeinträchtigungen einhergeht.
In einem Kurs an der Uniklinik Dresden lernen Eltern, welche Bedürfnisse Kinder haben und wie man Momenten der Überforderung begegnet.

EIN KURS FÜR JUNGE ELTERN

Einen Laptop, ein paar Flyer und einen braunen Pappkarton – mehr braucht Anja Ihlefeldt nicht für den Kursinhalt, der da heißt: Stolpersteine.
Es soll um die kritischen Momente der Eltern-Kind-Beziehung gehen. Was können Eltern tun, wenn das lang ersehnte Wunschkind nicht das pure Glück bedeutet, sondern sie schier in den Wahnsinn treibt?
Kursleiterin Anja Ihlefeldt ist Rehabilitationspädagogin und selbst Mutter. Als sie vor vielen Jahren schwanger war, hat sie an einem ähnlichen Kurs teilgenommen, in dem die Hebamme erklärte, was Kinder wollen und brauchen. Damals hat die Hebamme den Schwangeren einen Tipp gegeben, der für Ihlefeldt bis heute großen Wert hat. „Wenn Sie nicht mehr können, weil Ihr Kind so viel schreit, dann atmen Sie tief durch, schauen Sie ihr Kind an und sagen Sie: ‚Du bist ein Wunschkind! ‘“
Anja Ihlefeldt erinnert sich: „Als die Hebamme das damals sagte, war ich überrascht und dachte, in so eine Situation werde ich ja wohl nie kommen. Ich weiß, wie ich mit kritischen Situationen umgehe … Sie werden nicht glauben, wie oft ich vor meiner kleinen Tochter stand und mich sagen hörte: ‚Du bist ein Wunschkind.“

WAS PASSIERT BEIM SCHÜTTELN?

Gerade in den ersten Monaten stellen manche Babys ihre Eltern vor ungeahnte Herausforderungen. Das Kind schreit und schreit und das scheinbar ohne Grund. In bis zu zehn Prozent dieser Anfälle ist das Baby untröstlich. Nichts kann das Kind beruhigen. Erst nach der 12. Lebenswoche sinkt der Schreianteil auf weniger als eine Stunde täglich.
Dem mit heftigem Schütteln ein Ende machen zu wollen, ist jedoch das Gefährlichste, was man machen kann. Aus einem einfachen Grund: Die Nackenmuskulatur der Babys ist noch nicht entwickelt, deshalb können sie ihren Kopf nicht selbstständig halten. Beim Schütteln wird er ungebremst in alle Richtungen geschleudert. Da das Gehirn nicht im Schädel verankert ist, wird es ebenfalls heftig erschüttert. Je nach Art des Schüttelns können dadurch unter Umständen wichtige Zentren des Gehirns dauerhaft geschädigt werden.

LERNEN MIT DER SCHÜTTELPUPPE

Um den Eltern die schweren Folgen dieser Überforderungshandlung im wahrsten Sinne „begreifbar“ zu machen, setzt FamilieNetz als Teil des Zentrums für feto/neonatale Gesundheit der Universitätsklinik in ihren Elternkursen eine Schüttelpuppe ein, mit der anschaulich gezeigt wird, was beim Schütteln mit dem Gehirn passiert. Die Puppe holt Anja Ihlefeldt aus dem braunen Pappkarton, sie ist in ein Tuch eingewickelt und genau so groß und schwer wie ein echter Säugling.
„Schütteln Sie ruhig mal richtig doll“, sagt die Kursleiterin und je nach Richtung des Schüttelns, leuchten rote Bereiche im Kopf des Kindes, also der Schüttelpuppe, auf. Das sind die Bereiche, welche durch das Schütteln dauerhaft geschädigt werden, weil Blutbahnen oder Nervenfasern reißen. Die Folgen sind Seh-, Hör- oder Sprachstörungen. Diese treten bei 70 bis 80 Prozent aller Kinder mit einem Schütteltrauma auf. Im schlimmsten Fall kann exzessives Schütteln gar zum Tod des Säuglings führen. Jedes Jahr sterben in Deutschland schätzungsweise 20 bis 30 Säuglinge durch ein Schütteltrauma. Die Dunkelziffer liegt allerdings noch viel höher.

Schüttelpuppe ©Claudia Hempel
Schüttelpuppe ©Claudia Hempel
WAS TUN IN EINER AKUTEN GRENZSITUATION

„Legen Sie das Kind auf den Rücken. Entweder ins sichere Gitterbett oder auf den Fußboden“, sagt Anja Ihlefeldt und gibt den Rat, kurz den Raum zu verlassen.
Das mag erst einmal ein wenig brutal klingen, doch wenn das Kind auf dem Boden liegt, kann es nicht runterfallen und sich verletzen. Jetzt für ein paar Minuten den Raum zu verlassen, ist in Ordnung.
„Das ist wichtig, damit Sie etwas räumliche Distanz, etwas Abstand, zwischen sich und dem Kind haben.“ Jetzt besteht die Aufgabe darin, sich irgendwie abzulenken. Manchen hilft es, etwas zu essen oder zu trinken. Auch das Hören beruhigender Musik kann hilfreich sein, oder man ruft kurz eine vertraute Person an.  

NOTFALLPLAN AUFSTELLEN

Wenn solche Schreisituationen öfter vorkommen, kann es hilfreich sein, in einem ruhigen Moment für den Fall der Fälle einen Notfallplan aufzustellen. Was tun im Fall der Überforderung? Wer kann das Baby mal kurz nehmen? Eine Nachbarin? Eine Freundin oder ein Freund?
Wenn die Momente der Überforderung zu viel werden, dann kann es sinnvoll sein, externe Hilfe in Anspruch zu nehmen.

Hilfsangebote für Eltern mit Schreibabys
Weiterführende Informationen
Das Nationale Zentrum Frühe Hilfen (NZFH) in der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (jetzt Bundesinstitut für Öffentliche Gesundheit) informiert auf seinen Internetseiten weiterführend über die Ursachen des Babyschreiens, gibt Tipps für einfache Hilfen und bietet Unterstützung bei der Suche nach wohnortnahen Schreiambulanzen an: www.elternsein.info/schreien/baby-schreit-viel/

Kontakt für Eltern
Universitätsklinikum Carl Gustav Carus Dresden
FamilieNetz in der Nachsorge
Tel.: 0351 458 10421
Kontaktformular: NeNa

www.ukdd.de/kik/familiennetz

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