Jugendliche, die sich einsam fühlen

Von Susan Künzel
viele farbige Hände


Bei Einsamkeit denkt man erstmal an alte Menschen, die mit Rollator allein zum Supermarkt schlurfen oder am Fenster im Pflegeheim auf Besuch warten. Doch eine neue Studie von Professorin Maike Luhmann belegt, was auch viele Eltern wahrnehmen: Jugendliche sind ebenfalls einsam und zwar in einem beträchtlichen Ausmaß, das während und nach der Pandemie gestiegen ist und weiterhin steigt. Ein Baustein, solcher Einsamkeit zu begegnen, sind Begegnungsstätten – wie das Kulturgut Linda, das wir hier vorstellen.

Fakten der Studie – Jugendphänomen Einsamkeit
„Immer mehr Jugendliche fühlen sich einsam“, so resümiert Professorin Maike Luhmann ihre Studie, „ihnen fehlt die Nähe zu Menschen, und sie fühlen sich sozial ausgeschlossen“. Dabei ist die Anzahl von Freunden weniger wichtig, einsam macht das Gefühl, sich niemandem wirklich anvertrauen und intimste Gedanken austauschen zu können. Das Ausmaß sich einsam fühlender Jugendlicher steigt seit längerer Zeit, sprunghaft allerdings war der Anstieg durch die Kontaktbeschränkungen in der Corona-Zeit; jetzt sind es doppelt so viele Betroffene wie zuvor. „Vermutlich hat diese Zeit etwas hinterlassen, was nicht mehr aufzuholen ist“, nimmt Luhmann an. Aber auch die Kriege und die Kriegstreiberei, Fragen ums Klima und die gestiegenen Preise seien Gründe für Verunsicherung und Rückzug. Die Folge ist oft eine ausufernde Nutzung digitaler Medien, was wiederum zu Einsamkeit führt. Andererseits können digitale Medien durchaus sinnvoll sein, sofern persönlicher Austausch stattfindet und sie zeitlich begrenzt genutzt werden.
Einsamkeitserfahrungen gehören zum Leben, insbesondere in der Jugendzeit, „die große Zahl Betroffener ist jedoch besorgniserregend“, stellt Luhmann fest. Als mögliche Lösung empfiehlt sie mehr Begegnungsorte für Jugendliche – Orte, an denen man kein Geld braucht, nicht als Störerin oder Faulenzer verurteilt wird und wo sich auch Mädchen wohl fühlen.

(Prof. Maike Luhmann arbeitet an der Ruhr-Universität Bochum und forscht seit 2010 zum Thema Einsamkeit. Die Studie entstand im Auftrag der Landesregierung Nordrhein-Westfalen.)

In der Nähe von Frohburg im Kohrener Land liegt das Kulturgut Linda. Es ist ein Vierseitenhof aus dem 16. Jahrhundert, ein rundum geschlossenes Gebäudeensemble, wie es oft anzutreffen ist in den liebevoll und aufgeräumt wirkenden Dörfern hier. Einem kleinen Kräutergarten gegenüber gewährt eine schmale Pforte Zutritt zum Hof. Dort bieten die ehemaligen Stallungen, Gesinderäume, Wohnhaus, Torhaus und Scheune viel Raum für die dort wohnende Gemeinschaft, für Tiere, für Gäste und für Kunst, Kultur, Entdecken und Zusammenkommen. „Es gibt freilich noch immer viel zu renovieren“, erzählt Marc Mascheck. Er und seine Frau Franziska, beide bühnen- und pädagogikerfahrene Tanz- und Theatermenschen aus Berlin, haben vor zehn Jahren das laute Großstadtleben und eine florierende Tanzschule hinter sich gelassen, um mit ihren vier Kindern hier aufs beschauliche Dorf zu ziehen. Neben ihrer Affinität zu Kunst, Kultur und Theater haben sie auch viel Wissen und Erfahrungen in der Sozialarbeit und Bildungswissenschaft mitgebracht. Jetzt profitieren davon die Kinder und Jugendlichen im Kohrener Land.

WIE ALLES BEGANN

Der Hof selbst war der erste Teil vom Projekt der Maschecks und damit auch ihrer eigenen Integration auf dem Land. „Zwei Jahre haben wir aufgeräumt, erstmal nur Müll und Schutt rausgeräumt – der Hof stand zuvor ja sechs Jahre leer“, erzählt Marc von den Anfängen. Genügend Zeit, in der sich die Ideen entwickelten, was man hier alles machen könnte: „Wir wollten Kultur- und Bildungsprojekte mit den Menschen vor Ort machen, sie unterstützen, aber nicht aus der Großstadt kommend ihnen sagen, wie es besser ginge“. So achtsam, offen und aktiv gelang das Ankommen auf dem Lande; auch dank der eigenen Kinder, die in Schule, Fußball- und Reitverein leicht Anschluss fanden.

2016 gründeten Maschecks ihren eigenen Verein – den KulturGut Linda e. V., besuchten die Schulen im Umkreis und erzählten Direktoren und Schülern von den Projektideen. Sie stießen (zumeist) auf offene Ohren. Denn es gibt zwar ein gepflegtes Vereinsleben für Ballsport, Leichtathletik oder Reiten, aber eher wenig bis gar nichts in Hinsicht Theater, Kunst, Naturwissenschaften und Technik. „Wir waren fast der einzige Akteur hier im Kohrener Land“, sagt Marc Mascheck. Das sächsische Förderprojekt ‚Soziale Orte‘ ermöglichte für drei Jahre eine finanzielle Basis und damit einen leichteren Start. Ergänzt um diverse Projektfinanzierungen konnten und können viele Aktivitäten kostenfrei angeboten werden.

KOHRENER TAFELRUNDE

Die Liste der Projekte ist lang. Die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen steht zumeist im Fokus, aber auch Generationenverbindendes findet statt, beispielsweise ein Mehrgenerationentheater im Jahr 2019. Seit einigen Jahren werden kleine Imagefilme über die Arbeit der Kohrener Vereine gedreht. Dabei verwirklichen sich vor allem die Kinder und Jugendlichen bei Idee, Drehbuch, Aufnahmen, Schnitt sowie als Statisten. Zum Beispiel über den Oldtimer-Verein mit Mopedwerkstatt, in der die Kids ihre Mopeds unter fachlicher Anleitung aufmöbeln können, um mit 15 Jahren dann mit einem sicheren Fahrzeug unterwegs zu sein. Oder über den Spurensuche-Verein, der historische Geschichten sammelt, und den die Maschecks mit Kindern, Alpakas und Kameras auf 1000-jährigen Handelsrouten im Kohrener Land begleiteten.

Solche Filmprojekte verschaffen dem jeweils porträtierten Verein Aufmerksamkeit und bringen weitere Kinder hinein, erst als Statisten, dann als Mitglieder. Und sie bringen die Vereine zueinander; aus den entstandenen Synergien ging die „Kohrener Tafelrunde“ hervor. Die präsentiert sich zur 1050-Jahr-Feier in Kohren-Sahlis, natürlich mit Vortragsreihe und Theaterstück der Kulturgut-Projektler.

VON HOFFEST BIS 3D-DRUCK

Es wird feste gefeiert im Kulturgut. Das Hoffest heißt Maker Festival oder Dorftheaterfestival oder Wiesenfestival, jedes Jahr anders. Dazu kommen Kirschblütenfest, Lesungen, Konzerte und Veranstaltungen im Sonnengarten und seit Kurzem die Freie Film- und Theaterschule Salofé. Aufführungen sind immer verbunden mit Festen, damit die Kinder nicht nur vor verwandten Fans spielen, sondern die ganze Gemeinde stolz sein darf.

Auch im Herbst 2024 wird das so sein, wenn ein Ensemble um Gregor Meyer, dem Leiter des Leipziger Gewandhauschores, im Kohrener Land Kantaten von Bach zum Thema Tod aufführen wird. Kinder und Jugendliche entwickeln Texte und begleiten sprechend und spielend die professionellen Sänger. Vorbereitend geht es in die Stadtbibliothek, in ein Bestattungsunternehmen und zu Proben ins Gewandhaus nach Leipzig.

Eine längere Fahrt führt nach Montottone, der Partnerstadt in Italien. Bereits das dritte Jahr findet diese Jugendbegegnung statt, bei der thematische Filme entstehen, die beim späteren Gegenbesuch und Jugendfestival präsentiert werden.

Recht neu ist der sowohlalsauch-Makerspace. Klingt kompliziert, ist aber ganz einfach, denn dort ist einfach alles möglich. Im renovierten ehemaligen Stallgewölbe wird diskutiert und entwickelt, gebastelt und kreiert. Und gedruckt – Plastik und Keramik aus dem 3-D-Drucker.Dieser Macherraum entwickelt sich in Zusammenarbeit mit der Makerszene aus Chemnitz, Leipzig und Dresden.

KEINE EINSAMKEIT IM KOHRENER LAND

Einsamkeit nimmt Mascheck bei den hiesigen Jugendlichen eher nicht wahr. Die Kinder sind viel draußen, unterwegs mit Fahrrad und Moped, eingebunden in Hofarbeit und Vereinsleben. Wenn es regnet oder das Moped kaputt ist, treffen sie sich online zum Spielen und zum Quatschen. „Die harte Zeit der Kontaktverbote war auf dem Land weniger kompliziert als in der Stadt, es gibt genug Platz, die Kinder waren draußen und gesund“. Mascheck kennt das Jugendphänomen Einsamkeit eher aus Berliner Zeiten und als urbanes Phänomen: „Es scheint eher ein Problem in der Enge und Durchorganisiertheit der Stadt zu sein.“ In der ländlichen Region erlebt er ein gesundes Sozialverhalten. Das Kulturgut Linda bringt neue Impulse für Freizeit, Selbstwahrnehmung und Bildung ins Kohrener Landleben. Vieles davon könnte beispielhaft für andere Begegnungsstätten sein.

Einsamkeit als Gesundheitsrisiko
Einsamkeit wird mit negativen Gefühlen wie Traurigkeit, Leere, Sorge, Verzweiflung bis hin zu einem Gefühl der fehlenden Kontrolle verbunden. Dann schwindet das Vermögen, die Situation aus eigener Kraft zu ändern. Einsamkeit bedeutet immer auch Stress. Hält der lang an, können gestörter Schlaf, soziale Angst, Depression oder sinkende schulische Leistungen die Folge sein, Bewegung und Aktivitäten nehmen ab. Es entsteht ein Kreislauf.
Wenn keine Kontaktaufnahme möglich ist, zieht sich ein einsamer Mensch immer mehr zurück, nimmt andere Menschen als bedrohlich wahr, richtet sich in seiner Einsamkeit ein. Dann werden aus einsamen Jugendlichen einsame Erwachsene. Und es zeigen sich gesundheitliche Probleme, aber auch ökonomische und soziale Folgen, die die Gesellschaft spürt.

Erste Hilfe gegen Einsamkeit
Seit 2022 besteht das Kompetenznetzwerk Einsamkeit (KNE), ins Leben gerufen vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Dort findet man Hilfs-, Beratungs- und Gesprächsangebote, Notfallnummern und -chats, Begegnungsorte, Apps sowie Projekte für Gemeinsamkeit und gemeinsames Erleben. Hier einige Links und Nummern für Kinder, Jugendliche und Studenten:

Sportvereine gegen Einsamkeit
Das Projekt Verein(t) gegen Einsamkeit steht für die 87.000 Sportvereine des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB). Es soll dazu beitragen, Gleichgesinnte und soziale Heimat finden zu können

Tandems mit Eingewanderten
www.start-with-a-friend.de: Treff von Menschen, die schon länger in Deutschland leben und Menschen, die ganz neu in Deutschland sind. 1:1-Tandems und lokale Communitys

Netzwerk für Nachbarn
www.nebenan.de: kostenlose digitale Plattform, um Nachbarn kennenzulernen und für gegenseitige Hilfe, gemeinsame Aktivitäten, Teilen, Verschenken in Wohnnähe; adressverifiziert, mit Klarnamen

Freizeit-Community
www.GemeinsamErleben.com: kostenlose Kontaktaufnahme zu Personen in der Nähe für Aktivitäten, Hobby, Sport, Reisen, Treffen

Netzwerk für schwierige Lebenslagen
www.Helpcity.de: kostenloser, anonymer Austausch mit Menschen in ähnlichen Lebenssituationen sowie Gespräche mit Mentorinnen und Mentoren sowie Experten gegen Gebühr

Kostenfreie Hilfs- und Beratungsangebote     

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